Noch ohne Titel

Mir fällt einfach kein Guter Titel für die Kurzgeschichte ein. Vielleicht kann ja einer von Euch, Ihr meine Tausenden treuer Fans, einen Titel vorschlagen.

Das Wartezimmer ist hübsch eingerichtet. In einer Ecke vor dem Fenster steht ein rosafarbenes Sofa und ein passender Sessel. Der Fußboden ist mit cremefarbenen Teppichfliesen belegt und vor dem Sofa liegt ein Läufer dessen Pastellfarben orange dominiert werden. Die Stühle gegenüber der Anmeldung sehen alt aus. Dunkles Holz mit geblümten Polstern. Die Stuhlreihe auf der anderen Seite wirkt moderner. Chromglänzende Stühle mit hellen Lederpolstern. An der Wand hängen Kunstdrucke. Von Renoir Pont Neuf und Der Dogenpalast in Venedig, von Cézanne Mont Sainte-Victoire und Die Bucht von Marseille und von Monet Die Terrasse von Sainte-Adresse. Der sonst in großen Wartezimmern übliche Tisch mit Zeitschriften fehlt. Rebecca findet das aber gar nicht schlimm. Der Raum duftet ganz leicht nach Blüten und Gewürzen. Rebecca hat bis eben auf einem der alten Holzstühle gesessen und sich mit ihren Gedanken in der Bucht vom Marseille verloren. Jetzt allerdings erschallt der leise Aufruf „Frau Kerstin Heimen, bitte zu Frau Dr. Heinemann“. Eine Junge Frau mit traurigen Augen erhebt von dem Sofa, auf dem Rebecca nun mittig Platz nimmt. Ihr Freund akzeptiert lächelnd, dass sie das Sofa für sich allein haben möchte und setzt sich auf einen der Chromstühle. Rebecca sieht sich im Wartezimmer um, bleibt aber schnell mit dem Blick und den Gedanken an Monets Terassen hängen.

Es vergehen einige Minuten ehe Rebecca leise spricht. „ Der ältere Herr mit dem hellen Hut sollte den jungen Mann mit dem Zylinder nicht so neidisch ansehen.“

Der junge Mann, der im Sessel neben dem Sofa sitzt und in einer Wirtschaftszeitung liest sieht sie irritiert an. „Bitte?“

„Oh, ich hatte nicht sie gemeint.“

Der Blick des jungen Mannes streicht kurz suchend durch das ihn umgebende Wartezimmer. Es sitzen erst wieder mehrere Stühle entfernt andere Patienten. Er ist sozusagen allein mit Rebecca in dieser Ecke des Raumes. Genervt widmet er sich mit großem Gehabe wieder seiner Zeitung.

Rebeccas Freund antwortet mit der Sanften Stimme in ihrem Kopf, die nur sie zu hören vermag.

Rebecca rümpft die Nase. „Du tust schon wieder so allwissend. Nein, ich finde wenn ein älterer Herr ein junges Pärchen betrachtet, schwingt in seinem Blick meistens Traurigkeit und Neid mit. Besonders wenn er den jüngeren Mann betrachtet.“

Der Mann mit der Zeitung dreht sich demonstrativ etwas von Rebecca weg und schüttelt leicht den Kopf und verdreht die Augen.

Mit angestrengt nachdenklichem Gesicht betrachtet Rebecca weiter den Kunstdruck Monets. „Nein, das glaube ich nicht. Monet hätte doch die Boote viel deutlicher gemalt, wenn der ältere Herr sie betrachten würde. Er sieht sich die jungen Leute an und ist neidisch weil sie noch jung und verliebt sind.“ Diese Feststellung duldet keinen Widerspruch.

Die leise Lautsprecheransage beendet ohnehin jede weitere Erörterung des Problems. „Frau Rebecca Bruning, bitte zu Frau Dr. Krüger.“

In der Tür zum Sprechzimmer steht Rebeccas Mutter. Ihr Blick ist wie immer Sorgenvoll, als sie ihre Tochter ansieht. Rebecca kann das nicht leiden. Die Mutter hält sie kurz bei beiden Händen und versucht sie aufmunternd anzublicken. Rebecca findet das total peinlich. Schließlich braucht sie ja keine Aufmunterung, höchstens ihre Mutter.

Das Sprechzimmer wird von dunklem Holz beherrscht. Eine Wand wird in ganzer Höhe von einem voll gestopften Bücherregal eingenommen. Davor stehen ein dunkles Ledersofa und zwei passende Sessel um einen niedrigen Tisch herum. Frau Dr. Krüger steht gerade hinter ihrem wuchtigem Schreibtisch auf und geht lächelnd auf Rebecca zu. An den Wänden hängen Diplome und Urkunden.

„Hallo Rebecca. Ich bin Helena Krüger.“ Sie streckt Rebecca die Hand hin. „Deine Mutter meinte, wir sollten uns mal ein bisschen unterhalten.“

„Meine Mutter hält mich für ein bisschen verrückt.“ Rebecca rollt die Augen.

Dr. Krüger bietet Rebecka mit einer freundlicher Geste einen Platz auf dem Sofa an und setzt sich selbst auf einen Sessel. Neben dem Sessel ist ein so winziges Schränkchen, das Rebecca es erst bemerkt, als Dr. Krüger einen kleinen Notizblock von dem Schränkchen nimmt. Das Sofa ist erstaunlich bequem, so dass Rebecca sofort aus ihren Schuhen schlüpft und die Beine auf dem Sofa ausstreckt. Ihr Freund sitzt auf dem anderen Sessel.

Dr. Krüger macht einige kurze Bleistiftkritzelein in ihren Notizblock, lehnt sich dann zurück und betrachtet ihre Patientin aufmerksam. Rebecca sieht sich die Buchrücken im Regal an. Neben den zu erwartenden Büchern über „Klinische Psychiatrie“, „Endogene Psychosen“ und „Psychologie und Psychotherapie“ stehen dort auch „Per Anhalter durch die Galaxis“ und „Alice im Wunderland“, „Die Farbe der Magie“ und „Der Herr der Ringe“.

Als nach einigen Minuten noch immer niemand ein Wort gesagt hat, ist es Rebeccas Freund, der spricht.

Rebecca sieht Dr. Krüger durchdringend an. „Sie warten, das ich das Gespräch beginne.“

„Ja Rebecca, das ist normaler Weise meine Methode.“ Dr. Krüger lächelt.

Rebecka beobachtet nun Dr. Krüger aufmerksam. Eine Junge Frau mit modischem Kurzhaarschnitt. Sympathisch. Eine kurze Weile scheint es Dr. Krüger nichts auszumachen dass sie so durchdringend betrachtet wird, doch dann wird langsam ihr Unbehagen deutlich.

„Rebecca, willst du mir nicht ein bisschen von dir erzählen?“

„War meine Mutter nicht ausführlich?“

Dr. Krüger lächelt. „Doch, deine Mutter war sehr ausführlich, kann aber natürlich nur ihre Sicht der Dinge schildern. Mich interessiert aber wie du dich selbst siehst. Was du magst oder nicht magst, was du dir so denkst, wenn du so schweigend da sitzt.“

Rebecca sieht die Therapeutin einen Moment an, dann blickt sie zu ihrem Freund auf der anderen Seite. Schließlich wendet sie sich wieder Dr. Krüger zu. „Sie wollen mit mir über meinen Freund reden.“

„Willst Du über ihn reden?“

„Wenn sie wollen. Ich habe ja kein Problem mit ihm. Und er hat auch nichts dagegen“

„Woher weißt du das?“

„Na wir reden. Was dachten Sie denn?“

„Ich wollte nur gefragt haben. Du verstehst sicher, dass ich hier nicht immer sinnvolle Antworten bekomme. Ich weiß ja noch nicht viel von Dir.“

„O.K. Also wir unterhalten uns viel, haben eine Menge Spaß daran, über andere zu lästern, und sind auch ansonsten ein ganz normales Paar.“

„Wie heißt denn dein Freund“

Rebecca sieht ihren Freund an. Der zuckt die Achseln.

„Na gut, nicht so ganz normal. Er kann mir seinen Namen noch nicht sagen, er ist für die meisten Menschen unsichtbar und nur ich höre seine Stimme in meinem Kopf.“

„Verstehst du, dass das für andere merkwürdig klingt?“

„Ja, na klar. Aber das nervt.“ Rebeccas Tonfall wird deutlich agressiver. „Die sehen mich an als gehöre ich irgendwo weggeschlossen. Ich muss aufpassen wem gegenüber ich meinen unsichtbaren Freund erwähne. Und wenn wir glauben alleine zu sein und jemand sieht uns doch, rennen sie gleich zu meiner Mutter, dass die mich endlich einweisen lässt.“ Rebecca sieht trotzig zu Dr. Krüger auf. Dann fährt sie aber doch wieder in ruhigem Ton weiter fort. „Und jetzt hat Mama sie eingeschaltet, damit ich endlich in eine Anstalt komme.“

„Anstalt sagen wir schon lange nicht mehr. Aber ja, das eine der Möglichkeiten, an die wir denken müssen. Das ist aber noch viel zu früh über so etwas nachzudenken. Bisher erscheinst du mir doch recht vernünftig. Hast du Angst vor einer Psychiatrischen Klinik?“

„Nein“ Die Antwort kommt offen und spontan. „Ich habe Angst davor, dass die mich da mit irgendwelchen Drogen so verbiegen, bis ich nicht mehr ich selbst bin. Und davor, dass mein Freund mich vielleicht nicht mehr mag, wenn ich dort verbogen wurde“ Rebeccas Freund legt ihr seine Hand auf die ihre und blickt ihr mit Liebe und Zuversicht in die Augen.

Rebecca hört ihm aufmerksam zu, Dr. Krüger lehnt sich zurück und wartet.

Als sich Rebecca wieder zu Helena Krüger dreht hat sie Tränen in den Augen. „Es tut mir so leid! Meine Freund weiß, dass sie meine Einweisung vorhin schon diktiert haben, bevor ich ins Zimmer kam. Meine Mutter sitzt schon wieder im Auto nach Hause und der Krankentransport für mich hat eben unten geklingelt und sie haben denen vorhin am Telefon versprochen, dass sie mich vorher noch ruhig stellen.“

Helena Krüger rührt sich nicht. Ihre Augen sind vor Staunen weit geöffnet und Ihr Mund steht ebenfalls offen. Sie blickt eigentlich ziemlich dümmlich auf ihre Patientin.

„Aber mein Freund weiß auch, dass sie den Schein noch nicht unterschrieben haben. Er kann nicht zulassen, dass sie uns trennen. Deswegen wird er sich ihnen jetzt zeigen.“ Rebecca sieht Frau Dr. Helena Krüger mitleidig an. Sie steht auf geht weinend auf die Ärztin zu. „Es Tut mir so leid.“

Dr. Krüger schafft es noch den verborgenen Knopf am winzigen Schränkchen zu drücken. Dann zeigt sich ihr Rebeccas Freund.

 

Es herrscht große Aufregung in der Psychologisch/Psychiatrischen Praxis der Dres. Krüger, Krüger und Heinemann. Vier Sprechstundenhilfen, darunter ein Mann von beachtlicher Größe, müssen die hysterisch kreischende Helena Krüger festhalten, damit Dr. Boris Krüger ihr die inzwischen vierte Injektion geben kann. Ihre vormals schwarze Kurzhaarfrisur erstrahlt in silbrigem Weiß, Ihre Augen sind ebenfalls weiß, ohne Iris, ohne Pupille. Nur ein paar Adern stehen in tief rot auf den weißen Augäpfeln hervor.

Rebecca kann ohne von irgendwem gesehen zu werden über den Tresen der Anmeldung greifen und ihre frisch angelegte Patientenakte greifen und die Praxis verlassen. An ihr vorbei stürmen vier Polizisten und zwei Männer vom Krankentransport vorbei durch das Treppenhaus. Die Trage, die die Männer vom Krankentransport zwischen sich her schieben ist in Unordnung geraten. Oben auf der Einwegdecke liegen die mit Filz gepolsterten Fesselgurte.

„Und was wird jetzt?“ Rebecca blickt ihren Freund unsicher an. Ihr Freund nimmt sie bei der Hand. „Ja,“ erwidert sie, „ich sehe ein das Mama jetzt zu weit gegangen ist, aber ich möchte nicht, dass du ihr weh tust.“

Ihr freund schüttelt resignierend den Kopf.

„O.k. Aber nicht so wie hier.“

Hand in Hand gehen beide die Treppe hinunter. Aus den Türe und Fenstern der anderen Praxen im Ärztehaus sehen diverse neugierige Menschen dem Aufgeregten Treiben zu. Während Rebecca an der Bushaltestelle sitzt und sich einen Kaugummi auspackt ihn in zwei Teile teilt, wird Helena Krüger in Begleitung zweier Polizisten aus dem Ärztehaus geschoben. Plötzlich ertönt wieder dieses Mark erschütternde Kreischen. Irgendwie hat es Frau Krüger geschafft, die dicken Ledergurte, die sie umschlangen und fixierten zu zerreißen und von der Trage zu rutschen. Die Infusionen reißt sie sich einfach aus dem Arm. Auf wackeligen Beinen und mit nur einem Pumps an den Füßen läuft sie ein paar Schritte auf die Haltestelle zu. Ihre rechte Hand zeigt auf den Leeren Platz neben Rebecca. Schrill schreit sie „Daaaah, da ist er! Seht ihr denn nicht? Er wird uns alle…“ Dann ist ihr der erste von den beiden Polizisten in den Rücken gesprungen und zusammen mit den Zwei Männern vom Krankentransport und viel Schlagstockeinsatz schaffen sie es Helena Krüger lange genug festzuhalten, bis ihr Dr. Boris Krüger eine weitere Injektion gegeben hat.

Neben Rebecka verschwindet ein Halber Kaugummi wie von Zauberhand in der Luft.

„Ein bisschen stört mich der Gedanke, dass unsere Kinder solche Tentakel haben werden.“

Rebeckas Freund muss kichern.

„Naja, es hat ja eben nicht nur Nachteile ein paar Arme mehr zu haben.“ Auch Rebecca kichert.

Der Bus Fährt die Haltestelle an und Rebecca und ihr Freund steigen ein. Rebecca zeigt Ihre Monatskarte.

Ein nach Alkohol und Urin riechender Mann zeigt mit dem Finger auf das Ärztehaus, wo wieder mehrere Polizisten mit einer Weißhaarigen Frau ringen. Ein Mann vom Krankentransport taumelt Blut überströmt in die Hände der gerade als Verstärkung eintreffenden Polizisten aus einem Mannschaftswagen.

„Wat is’n da los? Na die jehn ja ab!“

Der Busfahrer zuckt die Achseln, nickt Rebeccas Freund grüßend zu und Schließt die Tür um los zufahren.

003 Immer noch die erste Nacht.

„Das war dein hoch geschätzter Kollege Secundus Aurelius.“ Breit lächelnd wartet der Alte, bis diese Information sich in ganzer Tragweite in Ahmeds verwirrtem Gesicht abzeichnet. Beide Männer greifen sich eines der Gläser und sehen den Mann in der orangen Regenjacke erwartungsfroh und auffordernd entgegen. Dieser sieht mit inzwischen bereits entrundeten Pupillen und insgesamt gräulich trüben Augen den Lichtreflexionen auf dem Edelstahltresen neben dem Tablett zu. Das Treiben der beiden anderen anwesenden Herren ist ihm dabei wohl entgangen. Der Kahlkopf nimmt also das dritte Glas, das bis dahin einsam verwaist eines Konsumenten harrte, drückt es dem Verwirrten in die Hand und ruft ihm ein freudig schallendes „Le Chaim!“ zu. Ahmed antwortet etwas leiser, aber ebenso fröhlich ebenfalls mit „Le Chaim!“, beide exen ihre Gläser und halten ihre Augen danach einen Augenblick geschlossen, als verfolgten sie den Weg der Spirituose innerlich auf ihrem Weg ins Gedärm. Der dümmlich guckende Dritte der mitternächtlichen Runde an der Frittenbude betrachtet das Geschehen, ohne den Eindruck zu erwecken das Gesehene auch nur ansatzweise zu verstehen. Schließlich betrachtet er für Sekunden das Glas, um es schließlich doch in einem Schluck zu leeren. Im Gegensatz zu den beiden anderen Herren behält er aber die Augen geöffnet. Zuerst, um die schön geschwungenen Ornamente auf dem arabischen Teeglas anzusehen, dann um in stummer Andacht, mit erstauntem Blick ins Leere, in sein Inneres zu lauschen. Wissend lächelnd nickt ihm der Kahlkopf zu, während sich die Augen in der Regenkapuze klären und Iris und Pupille wieder ein gesundes Aussehen annehmen. Auch die Haut nimmt wieder einen etwas gesünderen Teint an, bleibt aber doch noch auf der deutlich blassen Seite der Skala. Der Mann schiebt seine Kapuze in den Nacken und wendet sich vor Ehrfurcht flüsternd Ahmed zu.

„Was ist das für Zeug?“

Ahmed lächelt. „Das bekomme ich ab und zu von meinem Arbeitgeber. Aqua Vitalis“

Der Mann schüttelt den Kopf. „Das war kein Aquavit! Aber was es auch war, ich bin dir echt dankbar dafür. Ich bin schon den ganzen Abend stöhnend als Idiot durch die Gegend gestakst und habe mir…“ Er hält inne und blickt die Straße Alt-Tegel hinunter in Richtung See. Sein Blick wird leer. Dann dreht er sich mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern wieder den anderen beiden zu. Seine Stimme ist wenig mehr als ein leiser Hauch. „Ich habe mich umgebracht. Ich bin tot.“ Betroffenes Schweigen hält sich für ein paar ewig andauernde Augenblicke. Als er den Blick wieder hebt, fixiert er erst den Mann in der Imbissbude und danach den älteren Mann davor. Schließlich stellt er mit dunkler Stimme eine fast schon anklagende Frage in den Raum: „Warum scheint euch das nicht einmal zu wundern?“

Ahmed guckt dem verunsicherten Mann in seiner Regenjacke freundlich in die Augen. Das helle Braun von Ahmeds Augen gewinnt an Tiefe und zieht das ganze Bewusstsein seines Gegenübers mit sich hinunter an einen heimeligen Ort der Geborgenheit. Sanft landet der Mann in seiner orangefarbenen Jacke in einer endlosen Wüste aus fast weißem Sand. Eine sehr große und gleißend helle Sonne strahlt angenehm warm vom Firmament. Von seinem Standpunkt oben auf einer Düne kann er die unglaublichen Ausmaße dieser Wüste erahnen. Hier ist es ruhig, warm und frei von störenden Details. Es ist völlig unmöglich zu sagen, wie lange er da auf dieser Düne gestanden hat, als er bemerkt, dass Ahmed direkt neben ihm steht. Allerdings nicht mehr als Imbisskoch, sondern in einer glänzend polierten Rüstung wie sie die Schauspieler bei „Ben Hur“ so ähnlich getragen haben, mit einem Turban umwickeltem Helm mit rotem Puschel, Schnürsandalen und Schienbeinschützern, sowie Schild, Speer und Schwert. Und dann ist da noch dieses Paar großer strahlend weißer Flügel auf seinem Rücken.

„Ahmed. Du bist ein Engel.“

Ahmed lächelt wieder freundlich. „Ja.“

Für einige Momente herrscht wieder die Stille über der Wüste. Der Engel setzt sich in den Sand und rieselt sich mit der Hand feinen Wüstensand auf die Füße. Irgendwann nimmt er sein Schwert samt Scheide vom Gürtel, um es achtlos neben sich in den Sand plumpsen zu lassen. Dann hebt er eine kleine Mulde aus, zieht sich umständlich die gebundenen Sandalen aus, verbuddelt vergnügt beide Füße in der Vertiefung und häuft schließlich noch einen kleinen Sandhügel darüber. Bis über beide Ohren strahlend sieht er zu dem Mann in der Regenjacke hoch, der seinerseits mit ungläubigen Blick den kindlich im Sand spielenden „Krieger Gottes“ betrachtet.

„Schade, ich hätte jetzt gerne noch ein Fähnchen für den Gipfel.“

„Ahmed.“

„Ja.“

„Du bist ein Engel.“

„Das sagtest du schon.“

„Was machen wir hier?“

„Ich dachte daran, vielleicht eine Sandburg zu bauen.“

„Du bist ein Engel.“

„Allerdings wird das mit dem Zuckersand hier wohl nicht klappen. Vielleicht einen Ringwall?“

„Was machen wir hier in dieser Wüste?“

„Na, wenn ich jetzt hier eine rund Fläche ebne, kannst du schon mal anfangen den Wall aufzuhäufen. Vielleicht bekommen wir in der Mitte ja wenigstens ein kleines Zelt hin. Wenn ich mir vielleicht ein paar Federn…“ Ahmeds linker Flügel breitet sich zu einer beachtlichen Größe aus und biegt sich herum bis Ahmed, immer noch äußerst vergnügt grinsend, mit der Rechten eine kleine schneeweiße Feder daraus zupfen kann. „…in den Sand stecke…“

„AHMED!“ Der geschriene Name öffnete wohl doch den Geist des Engels für das Anliegen seines deutlich irritierten Zuschauers. … (später mehr)

002 Die erste Nacht

Mit augenscheinlich steifen Gliedern und gesenktem Haupt geht der Mann mit der orangefarbenen Regenjacke am Tegeler See entlang. Sein trüber Blick heftet sich mal an einen Papierkorb, mal an einen Baum. Ausführlich sieht er sich diese Banalitäten an, als wären es die noch nie gesehenen funkelnden Wunder aus einer fernen Welt. Als sein Blick langsam die Platane hinauf steigt und oben auf grüne Blätter stößt, weicht er regelrecht erschrocken ein paar Schritte zurück. Ein junges Pärchen weicht ihm spielerisch kichernd aus, Der junge Mann sagt in seine Richtung “Ja, ja, die gibt´s jetzt auch in grün.“ und reicht seiner Freundin wieder den Arm. Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss, hakt sich bei ihm unter und wirft der verlorenen Gestalt einen kurzen Blick zu, der ihm entgegen zu schreien scheint, dass Typen wie er, Typen in orangen Jacken, ganz weit unter ihr auf der Erfolgsleiter des Lebens stehen, tatsächlich so weit, dass sie sich auch gleich umbringen können, um sich dass sinnlose Abmühen um Aufstieg zu sparen. Minuten verwendet der Mann in der orangen Regenjacke darauf ihnen nachzusehen, bis sie hinter Büschen und Bäumen verschwinden.
Es ist schon deutlich am späteren Abend, als er sich in Richtung der Geschäfte in der Fußgängerzone wendet und von einem Schnorrer angesprochen wird. „Haste mal…“ der Rest der sorgsam weinerlich akzentuierten Ansprache fällt einem ersticktem Röcheln und einem schweren Schlucken zum Opfer. Der Mann, der immer noch das knietschbunte Handtuch um die Schultern trägt, hat seinen Blick zu seinem bettelnden Gegenüber erhoben. Mit schreckensgeweiteten Augen läßt der seine Alditüte fallen, so dass eine Welle aus Pfandflaschen über das Pflaster schwappt. Gehetzt stolpert er rückwärts ein paar Stufen hoch und rennt dann los, als sei der Teufel selbst hinter ihm her.
Als sich der Mann schließlich schlurfend einer Currywurstbude nähert, ist es schon fast Mitternacht. Der Mann hinter dem Tresen trägt ein fettig-fleckiges T-Shirt mit dem Aufdruck „Amigos! – Beste Döner in Berlin“ und hat das schwarze Haar unter einem altmodischem Haarnetz gebändigt. Ihm gegenüber steht ein kahlköpfiger Mann im GeStaPo-Mantel, der so hager und alt ist, dass man ihn für einen wandelnden Toten halten könnte. Die beiden Gestalten trinken im Licht der Reklametafel der Bude einen Tee aus orientalisch anmutenden Gläsern und sehen dem Ankömmling mit gelassenen Gesichtern entgegen.
Erstaunlich laute Musik zerreißt die ruhige Idylle am Tegeler Brunnenplatz. Alle drei Gestalten sehen sich einen langen Moment lang gegenseitig verwirrt an. Schließlich fischt eine grobmotorische Hand ein schlüpferrosafarbenes Handy aus der Tasche der orangen Regenjacke. Rihanna plärrt für einige Augenblicke noch lauter „We Found Love“ in die sonst relativ ruhige Nacht hinein, bis ungelenke Finger die richtige Taste drücken. Der Mann, in dessen Hand das immer noch tropfende Handy liegt braucht noch ein paar Momente um es ungläubig anzustarren, bis er es in seine Kapuze und an sein Ohr führt. Dass er anstelle eines wahrscheinlich geplanten „Ja, bitte?“ nur ein unartikuliertes Stöhnen heraus bringt, scheint ihn zu erschrecken, denn er zuckt unter der eigenen Stimme zusammen. Aber das Handy behält er mit dümmlichen Blick am Ohr. Schlurfend geht er die letzten drei Schritte auf den Mann im GeStaPo-Mantel zu und hält ihm laut stöhnend das Handy hin.
„Ahmed, stell uns mal jedem einen Aufmunterer hin. Ich denke, den werden wir gleich brauchen.“ Damit nimmt Kahlköpfige das Handy aus der Hand, die ein bisschen aussieht, als hätte sie jemand aus sehr reifem Harzer Käse geschnitzt, ohne jedoch sein Schnitzmesser vorher zu schärfen oder auch nur zu reinigen. Während der Eigentümer der käsigen Hand diese betrachtet, als hätte er noch nie so etwas seltsames gesehen, geschweige denn gewusst, dass das da am Ende seines rechten Armes wächst, telefoniert der Glatzkopf im Flüsterton zwei Schritte abseits der Imbissbude. Immer wieder wischt er sich genervt das Wasser von seinem Mantelkragen, das von dem Handy laufend und in erstaunlichen Mengen abgesondert wird. Er beendet das Gespräch mit einer Verneigung und wendet sich den anderen beiden wieder zu. Der Eigentümer des Handys braucht einen Moment, ehe er es zurück nehmen kann. Er ist gerade voller Faszination dabei die linke Hand als Referenzstück für die Rechte zu nutzen und starrt gebannt auf seine Hände, die er in Augenhöhe langsam vor sich dreht und bewegt.
„Also das war ja mal erfreulich“ Der Mann im GeStaPo-Mantel lächelt zufrieden. Sein Lächeln wirkt irgendwie schlecht proportioniert: Sein Gebiss ist zwar gut gepflegt und sauber, wirkt aber für den alten Herren deutlich zu groß und das strahlende Weiß für die mit Altersflecken übersäte Haut zu hell. Die Gesichtshaut wirkt auch ein bisschen so, als hätte er sie eine Nummer größer anziehen sollen, dann würde sie auch zulassen, dass Blut in den Lippen zirkuliert und der Betrachter hätte nicht Angst, dass sie jeden Moment einreißt und den blanken Schädel (mit zu großer Prothese) freilegt.
Ahmed hat inzwischen die Teegläser entfernt und ein Tablett mit drei anderen seiner orientalischen Gläser auf den Tresen vor sich gestellt. Gefüllt sind die Gläser diesmal aber nicht mit Tee, sondern mit einer klaren, leicht gelblichen Flüssigkeit. Erwartungsfroh blickt er seinen Kunden über den Tresen hinweg an.
Der Kahlkopf fährt freudig lächelnd fort. … (später mehr)